Roundtable: Schattenseiten des Heil-Ideals

Was verstehen wir unter Heilung, und was heilt? Das ist das Thema des Symposiums, 20 Jahre ÖATP.
Symposium 2013, Wien
Was heilt

Maryam Khorassini Michels

Impulsvortrag

Heilung und die Kraft des Schattens

„Will der Arzt einem Patienten helfen, so muss er ihn in seinem Sosein annehmen können. Er kann dies aber nur dann wirklich tun, wenn er zuvor sich selbst in seinem Sosein angenommen hat.“     C. G. Jung 

Was ist Heilung?

Unsere Vorstellung von Heilung ist immer auch eng verwoben mit unserem Menschenbild bzw. unserer jeweiligen Kultur. Sie ist eng gekoppelt an unsere Konzepte von Leben, von Glauben bzw. unseren Überzeugungen. Auch die Wissenschaft – an sie werden ja gerade im Hinblick auf Heilung hohe Erwartungen gesetzt –, ist davon nicht ausgenommen, sie ist in hohem Maß vom jeweiligen kulturellen Verständnis geprägt.

Zu den verschiedenen Heilsvorstellungen bemerkt die Kulturanthropologin Ina Rösing: „In den andinen Kulturen kann der Verlust der kleinen Seele krank machen und ist Zeichen eines Ungleichgewichts, ist jedoch das Gleichgewicht zu den Göttern in Balance, dann bleibt man unversehrt. In den Anden kann keine Krankheit geheilt werden ohne Ausgleich der Opferschuld, ohne Versöhnung mit den Göttern“.

Wenn wir dem den postmodernen Mensch gegenüberstellen, so hat dieser oft eine ganz eigene Vorstellung von Heilung: „Fast healig,“ „health enhancement“ – sind Schlagworte, die in diesem Zusammenhang fallen. Es scheint, als suche der moderne Mensch nach einem Heilungsideal, an das große Erwartungen und Bedürfnisse geknüpft sind.

Was bedeutet eigentlich der Begriff „Heilung“? Heilung heißt für mich immer Ganzwerdung. Das Wort „heil“ im germanischen Sprachgebrauch bedeutet „gesund“, „unversehrt“, “gerettet“. Die englische  Sprachwurzel von heil ist „whole“ , was mit „vollständig“,  „gesund“ und „heil“ übersetzt wird. Gemäß eines modernen naturwissenschaftlichen Verständnisses umfasst Heilung – im Sinne eines biopsychosozialen Modells – körperliche, psychische und soziale Aspekte. In diesem dreigliedrigen Modell des Menschen fehlt jedoch meiner Meinung nach die spirituelle Dimension, denn in allen Heiligen Schriften der Menschheit ist Heilung eng mit dem Glauben verbunden.

Für mich persönlich hat die spirituelle Dimension der Heilung eine herausragende Bedeutung. Ich habe eine feste innere Überzeugung in Bezug auf die heilende Kraft der Liebe, ebenso in Bezug auf veränderte Bewsstseinzustände (VBWZ), auf das Gebet, aber eben auch im Hinblick auf das heilende Zusammenspiel von Selbstheilungskräften, förderlichen liebevollen und akzeptierenden Beziehungen und unterschiedlichen medizinischen Heilmethoden.

Gerade aus einer spirituellen Perspektive heraus ergibt die Berücksichtigung des Schattens, der im Zentrum dieser Überlegungen stehen soll, einen ganz besonderen Sinn.

Was sind die Wirkfaktoren der Heilung? 

Kürzlich erkrankte einer Freundin von mir an Krebs, was mich sehr bewegte. Immer wieder beschäftigten mich Fragen wie: Was sind die Bedingungen, was sind die Methoden und was die Voraussetzungen, die diese Freundin brauchen würde, um den Weg zur Heilung zu beschreiten? Parallel zu diesen Fragen beobachtete ich, wie in mir immer wieder die gleichen Antworten auftauchten, die schon erwähnten, hinlänglich bekannten drei Aspekte der Heilung sowie die spirituelle Dimension. Außerdem schienen mir noch drei weitere Faktoren als wichtig, die ich nicht unbedingt als spirituell, sondern als grundlegend therapeutisch betrachte: das Ja zum Leben, das Annehmen dessen, was ist, und die Übernahme der Verantwortung. Das Schattenkonzept spielte dabei vorerst keinerlei Rolle. Nach diversen Behandlungen mit einem mehrdimensionalen Ansatz war meine Freundin nach sechs Monaten geheilt – der Krebs war weg. Die Blutwerte waren in Ordnung, Gott sei Dank! Es war fast wie ein Wunder.

Und dennoch denke ich nun, dass bei ihr der Weg der Heilung nicht abgeschlossen ist und es für sie von existentieller Bedeutung ist, ihr Ganz- und Heilwerden in der Tiefe zu verstehen. Aber diese Gedanken kamen auch mir als nahestehende Freundin erst, nachdem das rein physische Überleben wieder gesichert war. Was bedeutet der Satz: „das Heilwerden in der Tiefe verstehen“? Ich meine, dass Heilsein und Heilwerden voraussetzt, ein Bewusstsein darüber zu erlangen, dass wir in unserem tieferen Wesen nicht heil sind. Und dass Heilung nichts Lineares, nichts Statisches ist, sondern ein Prozess der kontinuierlichen Integration und Bewusstwerdung. Ein solches Bewusstsein – in unserem tieferen Wesen nicht heil zu sein – führt uns zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass „etwas“ im Schatten liegt.

Der Schatten ist Teil der Heilung

Laut C. G. Jung, der das Konzept des Schattens in seiner Tiefenpsychologie begründete, sind unter „Schatten“ ins Unbewusst verdrängte Anteile der Persönlichkeit zu verstehen, die mit der gelebten Lebensform nicht im Einklang stehen und die wir als böse oder fremd erleben. Der Schatten bezeichnet jene Seiten unserer Persönlichkeit, die wir nicht ohne Weiteres an uns akzeptieren; das können ein jähzorniges Wesen sein oder auch Eigenschaften wie Geiz oder Neid, Gier, Eifersucht oder Stolz. Nach C. G. Jung leistet der Schatten Verdrängungsarbeit im Dienste der „Persona“, um diese so zu erhalten, wie sie sich präsentiert. Wenn wir jedoch lernen, auch unseren Schatten zu akzeptieren, macht uns das selbstsicherer und authentischer: Ich schließe Frieden mit mir selbst, akzeptiere meine Begrenztheit, sehe mich weniger narzisstisch. Das entlastet und nimmt Lebensangst.

Die Akzeptanz des Schattens bringt aber auch ein Mehr an Verantwortung. Wir können nicht länger auf das Böse im Außen verweisen, sondern müssen uns die Frage stellen: Wo trage ich Verantwortung oder wo habe ich selbst destruktiv gehandelt? Es ist der Schatten, der uns zum „Dämon“ werden lässt, solange wir ihn verdrängen. Und es ist der Schatten, der uns dazu bewegt, uns klein zu machen. Im Schatten liegt also auch durchaus eine Schatzkammer an Fähigkeiten und Potentialen verborgen, die ins Bewusstsein gehoben und gelebt werden könnten. „Bewusstsein über den individuellen und kollektiven Schatten herzustellen, ist die beste Methode, diesen aufzulösen“ – „Bewusstsein heilt..“, so Ken Wilber.

Wie kann man nun mit diesen Schattenanteilen umgehen, was bedeuten Sie im Hinblick auf den Weg der Heilung? 

Wichtigste Voraussetzung ist es, zu erkennen, dass etwas im Ungleichgewicht ist. Etwas in mir und nicht im Außen hat mich dahin geführt, wo ich bin. Ich werde mich fragen, was sind meine  Schattenanteile, was habe ich verdrängt, was habe ich abgespalten und nicht ausreichend integriert?  Das wäre der Schritt der Schattenakzeptanz (Verena Kast).

Der nächste Schritt ist, dass ich mich mit den Aspekten, die hierbei auftauchen, nun ganz konkret auseinandersetze. Dies ist dann der Schritt der Schattenintegration.

Eine solche Entwicklungsstufe kann sich nur in einem längeren Prozess vollziehen, und bedarf in den meisten Fällen einer guten Begleitung. Der Fokus liegt hier im Bestärken, Mut machen und im Aufbau eines stabileren Selbstwertgefühles sowie der Spiegelung und dem Feedback des Begleiters, wenn sich immer wieder alte Muster in den Vordergrund drängen. Grundlage und Nährboden der Ich-Stärkung ist Erfahrung von Akzeptanz und Wertschätzung, Liebe und Achtsamkeit, in einem heilsamen Feld, in dem sich das Ich entfalten und entwickeln kann.

Eine ganz besondere Bedeutung kommt der Schaffung einer neuen und anderen Umgebung zu, damit die alten Muster nicht mehr zu schnell aktiviert und neue Erfahrungen angeregt werden. Aus neurobiologischer Sicht müssen sich neue Schaltkreise  entwickeln können und alte verfestigte emotional-kognitive Vernetzungen im Frontalhirn aufgelöst werden. (G. Hüther) Daraus können neue Räume entstehen, Einsichten gewonnen  und neue Perspektiven eingenommen werden. Es können Ressourcen aktiviert werden, und es entsteht eine neue innere Freiheit. 

Meiner therapeutischen Arbeit und auch Rückmeldungen von Klienten und Klientinnen zufolge waren dies Erfahrungen von der Art: „das Angenommensein so wie ich bin“, „dass ich so sein konnte, wie ich bin, egal wie ich drauf war“, auch die gemeinsame Arbeit an Konflikten, Träumen und Problemen („das Verstandenwerden in meinem tiefen Seinsgefühl“), die Entwicklung einer eigenen Verantwortung und Konfrontation mit dem, was ist („ich konnte damit das annehmen, was mich belastet hat“; „ich habe hilfreiche Stütze , Begleitung in der Bearbeitung erfahren“; „durch die gemeinsame Lösungsfindung wurde die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben möglich“). So konnten neue Räume entstehen, Einsichten gewonnen und neue Perspektiven eingenommen werden, Ressourcen aktiviert werden.  

Heutzutage gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote, die eine allzu schnelle und oft einfache Heilung versprechen. Kindlichen Sehnsüchte werden geweckten, bestimmten äußeren Anforderungen genügen zu wollen. Ich sehe darin eine Gefahr, Entwicklung kann sogar behindert werden und kostbare Zeit verstreichen. Innere Reifung, Entwicklung und Ganzwerdung brauchen Zeit. Wenn wir den Wunsch nach Heilung nur aus unreflektiert kindlicher Vorstellung angehen, besteht die Gefahr, dass wir eigene Schattenseiten, vielleicht Defizite, die aus der Kindheit rühren, einfach nur wegwünschen möchten.

Ein Schattenaspekt kann die Sehnsucht nach dem Einsein mit der Mutter sein, also einen Idealzustand an Symbiose anzustreben, ohne uns wirklich mit der Realität auseinanderzusetzen. Der Heiler soll mich ganz machen – alles wird wieder gut. Eine Wiedergutmachung, die nicht realistisch ist. Geben wir als Therapeuten und Begleiter diesem Wunsch unreflektiert nach, können sich Verstrickungen und Abhängigkeiten entwickeln, die für den Heilungsweg nicht förderlich, ja geradezu hinderlich bis hin zu destruktiv sind, da diese Verleugnung alte Muster verfestigen kann. Mit der ausschließlichen Projektion  und Delegation der Heilserwartung an andere vermeiden wir, wirklich ganz zu werden.

Damit nehmen wir uns die tatsächliche Möglichkeit, in der Tiefe unseres eigenen Seins die Heilkraft zu suchen und diesen Schatz unserer eigenen Heilquelle auszugraben. Wir nehmen uns aber auch die Chance, neue Erfahrungen zu machen, die auch unsere neuronalen Strukturen ändern können. Bei Rumi heißt es: „Suche bei niemanden anderen Zuflucht als bei dir selbst. Das Heilmittel deiner Wunden ist die Wunde selbst“. Es geht darum, das Gold aus dem Schatten in Besitz zu nehmen. Und nach C. G. Jung sind 90 Prozent des Schattens schieres Gold. Im Schatten liegt eine Schatzkammer von Fähigkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten und Ressourcen verborgen, Schätze, die ins Bewusstsein gehoben und gelebt werden wollen. 

Auch das Ja zum Leben und die Bereitschaft zur radikalen Veränderung bzw. die Angst, die uns davor abhält, haben meiner Meinung nach eine besondere spirituelle Perspektive und Bedeutung. Zentral ist die Haltung der Hingabe (Surrender to what is), sie beinhaltet ein Offensein für das, was kommt, ohne eine bestimmtes Ergebnis zu erwarten, aber auch, ohne sich selbst aufzugeben oder kleinzu machen. Das ist kein passives Hinnehmen im Sinne der Resignation, nein, es ist ein aktives Annehmen. Es fordert unser volles Vertrauen, dass es nicht nur Heil oder Unheil, Krankheit oder Gesundheit gibt. Das ist das Vertrauen in und das Streben nach dem Großen und Ganzen. 

Hier wird  Heilung  zu einem selbstverantwortlichen, reflektierten und aktiven Prozess, es bedarf unseres Einverständnisses, unseres Mitgefühls mit uns selbst und eben der Hingabe an das Leben als solches.

Der Aspekt von Disziplin und Übung, der helfen soll, dem Festhalten an alten Mustern zu begegnen, betont die Eigenverantwortung. Er ist ohne die ansatzweise erfahrene Integration der vorherigen Aspekte kaum in einer fruchtbaren und heilsamen Weise umsetzbar. Hier zeigt sich, dass sogar der Gedanke, dass der Schatten durch die innere Auseinandersetzung irgendwann ganz verschwindet, auch nur eine weitere dem Schatten selbst entspringende Wunschphantasie ist. Die Wahrheit ist, dass der Schatten eben immer da ist, immer Herausforderung und Schatzquelle zugleich. Es sind insbesondere zwei  Schattenaspekte, die in dieser Situation oder Phase auftauchen können: Bei manchen sind es selbstdestruktive und resignative Gedanken oder Gefühle von der Art: „Das schaffe ich ja ohnehin nicht“, „da brauche ich erst gar nicht damit zu beginnen“, bei anderen ist es die selbstverlorene Fixierung auf die Übung der Disziplin an sich, ohne dass dabei der Sinn und das Ziel im Auge behalten wird. Die Folge ist, dass sich sehr bald ein Gefühl der Erschöpfung einstellen kann.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal Folgendes festhalten: Durch die Bewusstwerdung der Schattenseiten können wir die Kraft, die wir für die Verdrängung eingesetzten haben, für die Veränderung einsetzten. Dazu muss ich wissen, dass es diese Kraft in mir gibt. Dann muss ich sie zu mir nehmen und für die heilsame Selbstwerdung einsetzen.

Ich möchte Ihnen allen Mut machen, den eigenen Schatten in Besitz zu nehmen, sich dafür zu öffnen, uns in dunklen Räumen zu bewegen und uns uns selbst zuzumuten und den Schatz hervorzuheben.

Wenn wir die Bereitschaft, den Mut und die Ausdauer mitbringen, die Schattenseiten zu integrieren, öffnen sich uns Türen zu neuen Erfahrungsräumen, die uns sonst verschlossen bleiben. In diesen Räumen gibt es weder ein Gutes noch ein Böses. In diesen Räumen gibt es nur ein: ICH BIN.

Literatur bzw. Anmerkungen (Inga Rösing, G. Hüther, C.G. Jung, etc.)